Letzte Weihnacht
Überdimensionale Antizipation? Soziale Deprivation?
Ich grübele im gemächlich dahinziehenden vorweihnachtlichen Verkehrsstrom über die gerade gehörte Expertenrunde nach. Welchen Grund hat die zur Weihnachtszeit in deutschen Landen oft spontan wie ungezügelt ausbrechende und exzessiv ausgelebte Aggression. Wie kommt es zu diesen eigenartigen saisonalen, individuell und kollektiv vollzogenen verbalen wie physischen Gewaltattacken. Die Radioexperten konnten sich keinen rechten Reim darauf machen.
Kindheitstraumata im Zusammenhang mit irgendwelchen Rentieren?
Das nie bekommene, wenngleich oft gewünschte Pony?
Und wie ich mich selbst um einen Reim auf diese Frage bemühe, stehen sie plötzlich und unangekündigt im ohnehin durch Einkaufstüten beengten Raum meines Fiats. Klar und deutlich. Diese ersten Takte, die unweigerlich in jenen Song führen werden. Zeigen ihre widerwärtige akustische Fratze. „Nicht schon wieder“ höre ich meine Gedanken noch, bevor sie sich babylonisch verwirren und ich mich wie von weit weg beobachte, wie ich von einem unbeherrschbarem Drang beseelt auf das Lenkrad eindresche, mit überschlagender Stimme das Radio anbrülle und den Tränen ihren Lauf lasse.
Durch den Tränenschleier sehe ich vor mir eine Frau aus einem mit kreischenden Kindern bestückten Minivan springen, in der Hand ein Autoradio von dem die Kabelenden lustig zu flattern beginnen als das gute Stück im hohen Bogen auf ein Straßenschild zufliegt.
Flehende Hupen im Dauerblöken. Ein Wagen steuert mit zunehmender Geschwindigkeit geradewegs auf den nahen Mittellandkanal zu.
Mit leerem Blick schwingt ein bulliger Typ einen frisch netzverpackten Weihnachtsbaum wie Darth Vaders Lichtschwert vor sich und fegt ein paar Fahrradfahrer von den Sätteln.
Es ist wie mit Absinth.
Man verträgt einfach nur ein gewisses Quantum pro Jahr und irgend ein „Last Christmas“ ist es dann eben: das „Last Christmas“ zu viel.