Keine Wahl
Missmutig musterte meine Tischnachbarin ihren Teller.
Für mich sahen die gebratenen, mit feinen Limettenschalenraspeln gesprenkelten Roastbeefscheiben und das Risotto alles andere als schlecht aus. „Hätte doch den Fisch nehmen sollen“, grummelte sie mit einem Kinnstoß in Richtung Seeteufelroulade, die mir serviert worden war.
Ich rückte deutlich von ihr ab, denn ich kenne diese Begehrblicke und hasse Fremdgabelangriffe auf mein Gedeck.
Dabei war ihrer Bestellung eine minutiöse Speisekarteninspektion vorangegangen, an der auch der junge Mann vom Service teilhaben durfte – „der gegrillte Pulpo, würden Sie den, ach warten Sie, der gefüllte Ochsenschwanz, es sei denn, nein, das Lamm-Medaillon oder, ach, das Perlhuhn …“.
Die Würde des Menschen besteht in der Wahl, sagt Max Frisch. Meine Tischnachbarin schien mehr als ausreichend Würde für die komplette Butler-Innung zu haben. Schon von daher störte sie weder das Räuspern des Kellners noch das Wechseln seiner Miene von Advent auf Aschermittwoch. Zudem wollte sie sich später ungern mit einem Spatz in der Hand wiederfinden – mit Blickkontakt zur nur wenige Meter entfernt auf dem Dach sitzenden Taube.
Was liegt da näher als die penible Prüfung des Angebots.
Doch mit seiner Ungeduld hatte der Servicemann absolut Recht. Denn dass du wählen kannst bedeutet noch lange nicht, dass du auch bekommst, was du dir vorstellst. Da ist allein schon Murphys Gesetz vor, das bekanntlich festhält, dass alles unweigerlich schiefläuft, was halt schieflaufen kann; in der Übersetzung der Rolling Stones: „You can’t always get what you want“.
Du zweifelst?
Such dir eine x-beliebige Kassenschlange, von der du meinst, dass sie dich schneller durchschleust als die benachbarten. In welcher Schlange zieht der freundliche alte Herr das Säckel Sparschweinmünzen hervor um die Kaufsumme abzuzählen? Yepp – in deiner. Zieh dir im Dunkeln ein Sweatshirt über und dich wird garantiert das Rückenetikett unter dem Kinn kitzeln, fifty-fifty-Chance hin oder her. Greif dir eine Frucht aus einer Tüte „entsteinte Datteln“ und beiß herzhaft zu, dein Zahnarzt wird mitfühlende Worte für dich finden.
Psychologen meinen, wir Menschen neigen dazu, das Negative zu verinnerlichen und das Positive nicht zu würdigen – eben weil wir es schlicht als normal verbuchen und daher sofort vergessen. Aber erklärt das auch nur ansatzweise, dass das Highlight aus der Küche nicht dir, sondern deinem Nebenmann kredenzt wird, obwohl der lediglich blind auf irgendeine Stelle der Karte getippt hat? Oh nein! Die Wahl ist schlicht ein Gaukler, serviert hohle Nüsse und summt Jagger/Richards-Songs. Wie willst du da gewinnen.
Wenn du aber weißt, dass die Wahl dir keine Chance gibt, ist plötzlich alles ganz leicht.
Pass auf. Du triffst auf einen 10er Fläscher Pinot Noir Reserve von Christian Hermanns [ein Graubündner, den du dir vielleicht als spannenden, substanzreichen Cocktail reifer Waldbeeren und junger Kirschen mit einer vereinzelten, mineralgepuderten grünen Walnuss vorstellst, der mit freundlichen Tanninen lange zirkuliert], neben dem rechts ein 08er Pinot Noir Reserve von Holger Koch steht [zu dem dir ein wunderbar von feiner Säure umspieltes, feingekräutertes Erdbeerkompott, eine Veilchennote, kühle Mineralik und dezentes Holz einfallen könnte], während links ein edler Schrat eines Fixin, der 09er „Clos de Fixey Monopole“ von Charlopin-Parizot, ruht [der gepfeffert mit Schlehen und Wildkirschen nach dir werfen, dich aber auch mal kurzerhand auf Rosen betten und allgemein in eine unbändige Partystimmung versetzen kann]. Also – was machst du?
Richtig! Nicht dem Wahlsinn verfallen. Denn wie du auch wählst, du wirst nicht zufrieden sein. Zumindest nicht, solange du nicht das richtige tust und alle drei mit nach Hause nimmst.
„You can’t always get what you want“, na klar. Aber wie geht der Song gleich weiter: „but if you try sometime, you just might find you get what you need.“