Heimatwein
Wir saßen schon eine Weile zusammen am Tisch. Er erzählte, wie er ein paar Tage zuvor auf das Hasenöhrl gestiegen sei um vom Gipfel aus den Sonnenaufgang zu beobachten. Es klang, als sei er nicht auf den Berg, sondern mit dem Berg gewandert.
Irgendwann stellte unser Gast einen Karton Wein auf einen leeren Stuhl. »Von unserm«. Die Flaschen: nackt, etikettlos. »War mit auf dem Berg. Und nicht nur auf dem Hasenöhrl«, er schmunzelte. »Den hat schon der Vater getrunken, keine Marend ohne den. Ein Wein, wie ein Wein sein soll.«
Was soll ich sagen – ein Vernatsch war’s. Recht dünn, alles andere als bemerkenswert. Doch obwohl sich unser Gast aus derselben Flasche wie wir einschenkte, trank er offenbar etwas ganz anderes. Begleitete er seine Schlucke mit einem zufriedenen Lächeln, überlegte ich, ob es besser wäre, das Zeug tapfer auf ex runter zu gurgeln um die Sache wie ein echter Mann zu regeln oder – »irgendwie ist dieses Glas nicht richtig sauber« – die Küche für einen Flüssigkeitsaustausch aufzusuchen.
Ich brachte beides nicht über mich.
Trank sogar zwei, drei weitere Gläser während ich Südtiroler Geschichten von angeschossenen Wilderern aus dem Dorf und von ungewollten Schwangerschaften lauschte – und darüber, wie das deppete Hotel für die Daitschn das ganze Tal verändere.
Es dauerte nicht lange und die Figuren seiner Erzählungen begannen sich aus dem Lampenlicht über dem Tisch zu schälen, Konturen zu bilden, fast greifbar mit dem Gang seiner Geschichten an uns vorüber zu ziehen. Die Steinpilze aus dem Wald über seinem Haus, die seine Mutter immer panierte und zur Polenta briet, umdufteten förmlich unsere geweiteten Nasenflügel und bald machten wir im Schulterschluss empört eine gemeinsame Front gegen verpackungsmüllstreuende Tiroltouristen auf.
Sein Erzählen war distanzlos, kommunizierte Identität. Und der Vernatsch war ihm kein Wein, vielmehr Treibstoff für Zeitreisen, verflüssigte Seele einer ganz persönlichen Kosmologie. Elixier aus einer Dimension, die keine Vorbehalte kennt – zumindest nicht gegenüber unserem Gast.
»Heimatwein«, lächelte er über die mittlerweile zwei geleerten Flaschen hinweg und brachte die Sache auf den Punkt.
Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, merkte ich, dass nun ich am Zug war – also zog ich Riesling auf, von Mosel und Mittelrhein. Und Pinots aus Burgund, der Bündner Herrschaft und Franken. Noch ein wenig aus dem neuen Roussilion. Redete über Zitrus, Äpfel, Honig, ließ Musik spielen.
Als das Cembalo-Lametta von Frank Martins Petite symphonie concertante aus den Lautsprechern zwirbelte und Rieslingfrucht im Mund aufplatzte war es, als stünde ich wieder auf dem gymnasialen Schulhof, lästerte über die BeeGees und erklärte feierlich, dass das energetische Kraftfeld einer einzigen Phrase dieser Symphonie die ganze Disco-Jahresproduktion von 1977 implodieren lassen könnte. Bald floss Ruwer und nach dem Aufsteigen von Schieferwolken aus dem Glas schob ich Michael Brecker in den Player und überließ ihn seiner beständigen Selbstverwandlung. Ich redete darüber, dass All right now in Wien einfach anders klänge als in Prag oder Brighton und warum ich immer noch bei Bachs Johannes-Passion und bei Rihanna weinen kann – wenngleich sich die jeweiligen Gründe radikal unterschieden.
Bald machten wir einen Ausflug in die Architekturen von Pinots und ich ließ mich darüber aus, dass Zappa es auch nach seinem Tod schaffe, in seine Klanggebäude immer wieder neue Geheimgänge zu bohren. Wir unterhielten uns darüber, ob man Klänge sehen und Wein fühlen könne und ich ließ mich darauf bereitwillig von den anderen am Tisch in die äußersten Randbereiche der Relevanz umsiedeln. Legte von dort aus Little Feat auf, ließ sie die Raumzeit krümmen und richtete mich mit einem Grenache in der Vielschichtigkeit hinter ihrer Rauputzfassade ein. Als Coltrane von den Kreuzen hinabstieg um die Bs aufzumischen verriet ich, wie sich Erinnerungen und Erwartungen durch das Schnuppern an bestimmten Carignan-Cuvées zu einer Einheit verbinden ließen und wie viel mehr Spaß Proust wohl gehabt hätte, wenn er statt an seinen Gebäckstücken an solchen Weinen gerochen hätte.
Das plötzliche Lachen unseres Gastes war freundlich. Er deutete auf die Flaschen aus meinem Keller, die den Tisch mittlerweile ordentlich füllten und sein Lachen ging in ein Grinsen über.
»Heimatwein« sagte er dann noch einmal.
Und weißt du, er hatte Recht.