Erwin

Frei

„Tot isser.“
Erwins Begrüßungen, ein Kapitel für sich, also denk ich mir nichts weiter. Zwänge mich aus meiner Jacke und stelle eine Flasche auf seinen Küchentisch.
„Der freie Wille. Futsch, weg, Essig. Grade in der Zeitung gelesen. Hat die Hirnforschung rausgefunden.“ Erwin scheint radikal betrübt, denn er hat für die Flasche nicht mal einen Seitenblick.
„Klar isser weg, der freie Wille“, bestätige ich, „oder glaubst du, ich würde willentlich 3,50 für eine Fahrkarte in einem Bus hinblättern, in dem ich nur ein paar hundert Meter mitfahre?“
„Wir tun nicht, was wir wollen. Dafür wollen wir, was wir tun. Riesenunterschied. Wir erzählen jedem, dass wir den Plan haben, dabei passiert das Meiste aus der trüben Mitte des Unbewussten und wir rationalisieren erst später. Stand drin. In der Zeitung.“
„Ist was dran“, nicke ich. „Würde die Existenz von Shanty-Chören erklären. Oder Nordic-Walking-Kursen. Allerdings steht bei denen wohl das Rationalisieren noch ein bissele aus.“
„Pass auf“, unterbricht mich Erwin. „In deinem Hirn hast du den rationalen Neocortex. Nennen wir ihn den selbsternannten Planer. Und dann hast du das limbische System. Das irgendwie gar kein System hat sondern eher das Emotionschaos verwaltet. Hier ist dein ganzer Lebenserfahrungsfilm archiviert, vom Durchbeißen der Nabelschnur bis heute. Und wer, denkst du, entscheidet? Das Limbische, mein Lieber. Und zwar unbewusst, gefühlsgespeist und vor allem: bevor ein echter Gedanke auch nur ein sich räusperndes ‚Ääähm‘ herausbringen oder den lehrmeisternden Zeigefinger heben kann. Und ohne Gedanken kein Wille, denn der ist bewusst. Also: Trauermarsch für den freien Willen.“
Ich habe inzwischen den Korkenzieher gefunden und löse den Stopfen aus dem Flaschenhals.
„Ach Rosé“, sagt Erwin, mäßig begeistert.
„Nix Rosé. Grauburgunder. Enderle & Moll 2013.“
„Mach Sachen“. Erwin schnüffelt an dem tatsächlich orange schimmernden Wein. Nimmt einen ordentlichen Schluck, spielt ein wenig mit ihm herum. „Irrer Stoff. Orangenzesten, Kumquats, frische Kräuter, Birne, Physalis. Spiel, zirkuliert.“
„Ein Grauer mit Pointen“, schlage ich vor.
„Ein seriöser Spaß“, gibt Erwin zurück. „Da freut sich das Limbische aber.“
„Ist vielleicht gar nicht so übel, dieses Limbische.“
„Unterbewertet auf jeden Fall. Und der freie Wille schien eh ein bissele gestresst in letzter Zeit.“ Erwins Griff geht zur Flasche mit dem Grauen. „Hauptsache, wir wollen, was wir tun.“

Andreas Bürgel
November 2014
Enderle & Moll Grauburgunder 2013