Der Volkskönig
Weinfest, norddeutsch.
Um die geschnitzten Holzpferde aus deren Rücken kleine Kerzenhalter wachsen und die garantiert echten Lederhüte – original aus Australien – mäandert des Wendlers Auffassung von einem notwendigen musikalischen Beitrag zur Populärkultur. Der dafür verantwortliche DJ steht – seine gefalteten Hände auf einer mächtigen Plauze geparkt, grinsend, als wäre ihm gerade ein erstaunlicher entertainerischer Schachzug gelungen – in einer quietschbunten Bretterbude, die ihre besten Zeiten irgendwo zwischen „Michaela“ und „Bohemian Rhapsodie“ gehabt haben muss. Was auf den DJ sicher auch zutrifft, dessen Bob Marley-T-Shirt an ihm in etwa so authentisch wirkt wie am amtierenden Papst.
Große Bäume werfen unbeeindruckt Schatten, ein runder, mit Kies ausgelegter Weg schlängelt sich um ein Grün in seiner Mitte wie eine Anakonda um ein Kaninchen. Unter den Bäumen lange Bänke, lange Tische. Die Ellbogen auf den Tischplatte gehören gut zwölf Dutzend Leuten. Gelegentlich hebt sich einer, ein Glas wird an einen Mund geführt. Gemächlich, ohne Hast, die Erdanziehung zeigt hier Wirkung.
Kaum jemand zählt unter 50 Lenze.
Der Wendler wird durch „Con te partiro“ abgelöst – ein kurz ins Straucheln gekommener Käfer hätte kaum mehr Reaktionen bei den Herumsitzenden hervorgerufen. Es ist Sonntag in Niedersachsen. Der Nachmittag schlängelt sich auf den Abend zu. Die eine oder andere Hausfrau verabschiedet sich schon, das Abendbrot muss noch geschnitten werden, der Quark gerührt – oder umgekehrt, je nach Vorliebe. Andere signalisieren ihren Willen zu bleiben mit einem Flammkuchen, den sie neben ihrem Glas vor sich liegen haben; einen Fladen von der Sorte, der sich schlaff auf dem Weg zum Mund von der Gabel nach unten biegt, auf beiden Seiten der Forke. Auch das wird nicht weiter kommentiert, Flammkuchen winden sich halt wenn ihnen danach ist, zumindest in Niedersachsen.
Keine Kleinstadt ohne Weinfest – und sei sie auch noch so sturmfest und erdverwachsen. Acht Winzer sind dem Ruf in die Weindiaspora gefolgt, haben ihre Stände aufgebaut, ihre Flaschen gekühlt, ihre Korkenzieher geziemend zugeschliffen. Im Weinwisser, Gault Millau, Eichelmann oder bei Hofschuster wirst du sie vergeblich suchen.
Hier werden Produkte spezialisierter heimischer Landwirtschaft geboten, keine Kunstwerke; auch wenn das beim bloßen Betrachten der Stände und Buden nicht sogleich klar wird. Ein Stand im Rancherstil steht neben einer Art Gartenpavillon, ein für einen Einzelausschenker konzipiertes, klaustrophobisch wirkendes Pseudoweinfass zwischen einem plastikrebenberankten Romatikidyll mit Holzspitzdächlein und einem funktionalen viereckigen Verschlag für die Schnellmontage.
Auf den Theken und den Tischen dösen stapelweise werbende Druckerzeugnisse (jeweils fast deckungsgleichen Inhalts) mit einem Spitzenanteil der Sensorikvokabeln „fruchtig“ (weiße „Tropfen“) und „vollmundig“ (rot). Kaum minder beliebt: „Bekömmlichkeit“ und „schonende Behandlung der Trauben“, letztere oft vermittels „modernster Ernte- und Kellertechnik“.
Dornfelder rules, dicht gefolgt von Portugieser Weißherbst halbtrocken; Klassiker des deutschen Weinbaus solange es Niedersachsen geben wird. Gleichermaßen gerne vinifiziert: Bacchus, Chardonnay und Cabernet Dorsa. Ja, auffällig oft die Dorsa. Hier und da schon mal deren Schwestern und Cousinen Mitos, Dorio und Cubin. Unverbrüchlich verbunden mit „Barrique“ – das klingt weltoffen, unprovinziell, fast wie ein Doppelname auf einer Visitenkarte oder besser noch: ein Name mit Mittelinitial.
„Ja, der Riesling! Der König der Reben, nicht wahr. So etwas gibt es nur in Deutschland.“ So weht es zu mir herüber als ich auf einen der Stände zuhalte. „Also den richtig echten Riesling , na, vielleicht noch im Elsass – aber das Elsass ist ja eigentlich, also, verstehen Sie mich nicht falsch, aber das gehört doch praktisch, na Sie wissen doch. Also da gibt’s den auch. Und den Edelzwicker. Und herrlich auch der Straßburger Münsterkäse. Allerdings hat’s jetzt auch viele Ausländer in Straßburg, deshalb fahren wir da auch nicht mehr ganz so oft rüber wenn wir im Badischen sind. Auf Urlaub. Ortenau. Ist ja auch viel sauberer, im Badischen. Handgefegte Fußwege und Hygienetücher für die Supermarktrollwagen. Und für den Riesling haben sie einen ganz eigenen Namen. Warten Sie“ – und nach einem Fingerschnippen: „‚Quengelberger‘. Jahah! Humor haben die halt, die Ortenauer. Elsässer praktisch alle eingebildet, nicht wahr, und teuer, die Edelzwicker. Riesling sowieso. Und eben auch nicht so sauber wie die Badischen. Hygienestandard, geht nichts drüber, hab ich recht, Heide?“
Mit nicht durchgängig behaartem Haupt, einem erstaunlich runden und dezent geröteten Gesicht auf gedrungener Statur macht der männliche Teil des vor dem Rheinhessenstand stehenden Paares im Rentenalter eigentlich einen eher unscheinbaren Eindruck. Die energische Gestik und die schlicht als definitorisch zu bezeichnende Stimme straft diesen Eindruck jedoch nachhaltig Lügen.
Heide – die Nummer Zwei des Duos – gibt den Sancho Panza in frau, den Blick bewundernd zu ihrem unberossten Ritter gesenkt (denn sie ist trotz praktischer Schuhe eine Flensflasche größer), zum Fachvortrag des Gatten im Takt nickend wie weiland diese Hundemodelle auf den hinteren Ablagen der Jettas und Asconas.
Die Winzersleute auf der anderen Seite des Klapptresens – ebenfalls ein Pärchen, ebenfalls nicht mehr ganz jung – geben das still lächelnde, wenngleich seltsam abwesend wirkende Auditorium.
Mit einem Blick auf das Weinangebot, bei dem die Flaschen bei Mitnahme zwischen gut 3 Euro bis knapp 10 Euro in der rar vertretenen Spitze (Albalonga Beerenauslese, € 9,50) rangieren, schlägt ein Zeigefinger in Richtung Rheinhessenwinzer aus wie ein Wünschelrutengänger auf einer Wasserarterie: „Die Proben sind doch kostenlos?!“
Sind sie nicht. Aber ein Gläschen ist für 2 Euro zu haben, was ein dröhnendes „Weil heute Sonntag ist“ auslöst.
Und dann: „Ja, wir nehmen … “ Na, Riesling doch wohl, denke ich bei mir, aber es kommt wie das Wetter nach den Prognosen meines Wetterapps, nämlich anders.
„Der Riesling“, wird überraschend zur Kenntnis gegeben, „der Riesling ist jetzt immer so sauer.“ Wieder der Zeigefinger, diesmal stolz erigiert. „Wissen Sie: trocken und sauer ist nämlich nicht das Gleiche!“
„Sauer?“, interveniert die Winzersfrau, plötzlich mit allen humanen Vitalfunktionen ausgestattet und greifbar bemüht, Allianzen zu schmieden, „Aber nicht bei uns!“
„Mir han entsäuert“, erklärt ihr Männe mit fast illegalem Lächeln und ein gnubbeliger Finger zieht den Tränensack unter dem rechten Auge nach unten. Sollte verschmitzt wirken, ich würde jedoch Tage brauchen um dieses Bild wieder aus meinem Hirnkasten zu verbannen und noch Wochen später sollte mein Puls galoppieren wenn jemand Anstalten machen würde auch nur einen Finger zum Gesicht zu heben. Aber in der Sauerrieslingfrage weiß Rheinhessen unschätzbaren Rat:
„Na, da nehmen Sie den Kerner.“ Der nämlich habe den „sortentypischen Rieslingcharakter“ – nur eben mit weniger Säure; also quasi König der Reben aber volksverbundener, so in Richtung konstitutionelle Monarchie oder besser noch: Volkskönig, du weißt schon, Schützengilde.
Da das den beiden niedersächsischen Leckermäulchen unmittelbar einleuchtet, findet der Kerner bald den Weg über ihren Kehlenabhang. Und zwar umweglos ohne große Kurverei in der Mundhöhle, dafür aber gefolgt von einem atemluftgesättigten „Aaaaahhhhhhhh“. Und – nach einem Blick auf die Weinkarte (Flasche für € 3,85) – einem gönnerhaft vorgetragenen: „Machen Sie mir mal 12 davon in eine Kiste“.
Ja, so zu überzeugen vermag eben nur der Rieslingcharakter. Und sei es der des Kerners.
Mein Nachbar Erwin würde frei nach deMaistre sagen: „Es bekommt halt jeder den König, den er verdient“.
Vielleicht ist es aber auch nur die Sache mit den Töpfen, die alle ihre Deckel …