Täglich Wein? Das fragte VINUM im Dezember 2016, und ich wusste: sowas machen nur Degenerierte.
Autobahn in die Debilität
«Du, das Glas lag gar nicht so schlecht in der Hand. Leicht konvex, dickwandig, stiellos. Halbliterklasse. Weisst du: diese Senfgläser, aus denen wir als Kinder tranken. Und wie ich es so betrachtete, strahlte es etwas aus. Zuversicht. Selbstbewusste Unanfechtbarkeit; Erdbeben, Blizzard, Säureangriff – keine Gegner. Zumindest was Letzteres angeht: total plausibel. Weil der Wein, der aus dem Glasinneren dauernd schräge grüngelbe Töne von sich gab, eine Säure von der Leine ließ … oha, die wollte nicht nur spielen; beißen wollte die.»
«Dabei war der Mann ja nur nett», lacht Erwin.
«Nett: gar kein Ausdruck», bestätige ich. «Hockt auf einer Bank in den Weinbergen, ich wandere vorbei, wir kommen ins Plaudern, er zieht eine Literflasche unter der Bank hervor, sagt ‹Von Unserm›, und ‹Haustrunk›. Ohne den gibt’s keine Mahlzeit, kein Gespräch; ist Heimat, meint er. Aber der Wein: frei von Magierückständen und Emotionsspuren. Alltag im Glas. Verstehst du: in ’ner Flasche Wein muss doch ein Rätsel oder ein Polymultiplex-Kino stecken, Paralleluniversums-Blick aus verstellbaren Ledersitzen. Trinken, nur weil irgendein Wein auf dem Tisch steht? Bah, schnödes Gewohnheitssüffeln.»
Ich greife nach dem 10er Cabernet Franc «Charpentrie» der Domaine du Collier, lasse mich zu meiner Bestätigung nochmal durch die Johannisbeerstrauch-Galaxie fliegen, dann sanft wieder an Erwins Küchentisch absetzen.
«Und selbst wenn’s jeden Tag Collier und Co samt Kino und allem gäbe: danke, Mann, aber nein danke, nicht für mich. Das wäre blanke Routine, und die ist bekanntlich die Autobahn in die Debilität.»
«Absolut», nickt Erwin. «Und deshalb lasse ich dein Glas auch im Schrank, wenn ich morgen Guillemot-Michel und Sainte-Barbe aufziehe. Und übermorgen die Georgier. Routinegefahr, du weißt, drohende Debilität.»
«Bist du irre? Lass das Ding draußen», protestiere ich, «dabei geht’s schließlich um die Sache!»
«Aber klar», bestätigt Erwin, «die Sache.»
Wenn er nur nicht so schofelig grinsen würde.