Der Weihnachtsgedanke und der Wohlfühlgedanke hocken meist eng beieinander. Deshalb knabbert man gern schon im September Zimtsterne, gewöhnt sich an Glühwein und büffelt den Refrain von «Last Christmas». Man macht sich weiträumig weihnachtstauglich.
Weihnachten ist halt ein anderer Umstand der Seele, der braucht ein wenig Tragzeit; September bis Dezember ist da praktisch Mindestgravidität.
So sehen es die meisten.
Erwin gehört nicht dazu.
Xmass-Coach
Ein weißer Pompon baumelt von der knallroten Wichtelmütze und umspielt keck Erwins verkrampfte Schulterpartie.
«Advent, Advent und so. Du, ich leih mir mal deinen Minivan», begrüßt er mich. Allerbest grummelig.
«Unter so ’ne Kopfbedeckung gehört ein Apfelbäckchengrinsen», kläre ich ihn auf. «Schmunzelpflichtmütze. Wenn du damit zum Santa-Casting willst, musst du das aber noch üben. Und überhaupt: Warum nimmst du nicht deine eigene Karre?»
«Papperlapapp, Casting», mault Erwin. «Ich zeige jahreszeitliche Akzeptanz, tauche in Weihnachten ein und hole ’ne Blautanne. Dafür ist der R5 zu klein.»
«Gibt auch kleine Weihnachtsbäume.»
«Bah. Unter diese Nadelschleudern gehören Neuwagen, Zweitwaschmaschinen, Flatscreen-TVs. Weihnachtssachen halt. Da braucht’s ’ne Mindestgrösse.»
«Sagt wer?», liegt mir auf der Zunge, aber ich weiß es ja.
Pass auf: Für Erwin sitzen der Weihnachtsgedanke und der Wohlfühlgedanke in gegnerischen Ecken, warten grimmig auf den Gong zur nächsten Runde. Erwin beherbergt eine kolossale Weihnachtsphobie. Für ihn ist Glühwein die Fortsetzung der Rumkugel mit anderen Mitteln und «Last Christmas» ein sogar noch widerlicheres Abfallprodukt. Seit der Kindheit bekam er sofort Ausschlag, wenn seine Eltern den Krippenbausatz aus dem Keller holten und das Lametta vom Vorjahr aufbügelten. Denn Tante Herta würde über die Feiertage zu Besuch kommen. Unausweichlich. Immer. Und die kannte nur ein Thema: Vico Torriani. Dem hatte sie in den 50ern mal die Hand geschüttelt, wobei der in ihre Augen schaute, dass die Tante gemeint hat: Aufgebotsbestellung logische Mindestfolge. Nur dass der Vico sich nie bei ihr meldete und Herta sich zusammenreimte, dass ihn dunkle Mächte gewaltsam fernhielten, so dass er Botschaften an sie senden musste. Über seine Lieder.
Nun ist klar, dass du nur eine gewisse Dosis «Bella Donna» oder «Tausend Mandolinen» schadlos verarbeiten kannst, die Herta das Dudeln von Vico-Platten aber immer ein wenig übertrieben hat. Liebeskummer, Christfest-Eierlikör, du weißt.
Da kannst du dir als Bengel schon ein Weihnachtstrauma einfangen.
Erwin jedenfalls floh ab seiner Volljährigkeit zum Jahresende immer in den abgelegenen Teil der Stewart-Insel. Bis jetzt, da er entschied, es mit Weihnachten aufzunehmen. Mit Hilfe eines Life-Coachs. Dreimal die Woche – und mit Blick auf die rote Bommelmütze tippe ich auf Intensivsitzungen.
«Also, kriege ich die Schlüssel?», drängelt Erwin.
«Du wohnst alleine, wem willst du Fernseher unter den Baum legen?», frage ich nach. «Und Größe ist eh Quatsch, enttäuscht viel zu oft. Nimm nur Erbsen. Oder Kartoffeln.»
«Pffft», macht Erwin, bedingt überzeugt.
«Na, dann Erdnüsse. Tomaten, Restaurants, Schulklassen…»
«Ist ja gut.»
«Und Weihnachtsbäume.»
Erwin setzt sich zu mir, ich fülle zwei Gläser mit 13er Cerasuolo di Vittoria von COS, und wir schlürfen ein Weilchen.
«Engmaschig», findet Erwin den Sizilianer, «vornehm lustvoll, toller Zug, gute Länge.» «Gaumenkitzelsause: Kirschen, Beeren, Veilchen, Orangenzeste. Lederle, Mandel, Tabak. Kräuter. Und das Beste: kein Großer. Passt unter jeden Bonsai.»
Ich lege Nils Landgren auf, «Christmas with my friends», und zeige Erwin meinen Adventsweinkalender; eine Zwölferkiste mit Pappklappen über den Fächern.
«Na dann: Mach hoch ’ne Tür und lass uns froh und munter sein», grient mein Freund. Also ploppt noch ein Korken, und wir schmecken dem Wein hinterher.
«Was ist eigentlich aus deiner Tante Herta geworden?»
«Hat einen Roadie von Iron Maiden geheiratet und Vicos ‹Tausend Mandolinen› mit ‹Running free› und ‹Waisted time› geschreddert. Tod der tausend Watt.»
Wir klönen drauflos, und bei der dritten Flasche zieht sich Erwin den Rotzipfel vom Schädel, greift nach seinem Kalender und streicht einen Haufen Termine.
«Life-Coaching?», frage ich.
«Kann weg», nickt Erwin. «Und der R5 reicht allemal.»