Rousseau
Die Anzeige der Waage im Bad flirtet mit der 90-Kilo-Marke. Der Spiegel entsagt aller Höflichkeit, zeigt ein Teiggesicht, schlaffes Gewebe; meine Bitte an den Glaser, ihn gegen ein weniger wertendes, toleranteres Modell einzutauschen, stößt auf Unverständnis.
Zeit also, die Wahrheit zu akzeptieren: aus mir ist ein blasses, aufgeblähtes Tofuwürstchen geworden.
Da heißt es gegensteuern, grob in Richtung kernige Kaminwurz.
Fett wird man durch ein Übermaß an Zivilisation, durch den Verlust der natürlichen Mitte, sage ich mir.
Kennst du übergewichtige Rehe oder adipöse Kraniche?
Einklang mit der Natur – das ist der Schlüssel und mir fällt sofort Rousseau ein, irgendwie. Auch wenn ich im Ernstfall Rousseau nicht von Ross Thomas unterscheiden könnte – aber es ist die Absicht, die zählt, und die meine ist: zurück zur Natur!
Folglich stecke ich die Füße in Ökolatschen, ziehe ein WWF-T-Shirt über und schaue mir «Die Wüste lebt» auf Doppel-DVD an. Doch das neue Lebensgefühl bleibt aus. Hilft nur Radikalisierung.
Zeit also für ein Picknick.
Ein Fleckchen in einem nahen bewaldeten Höhenzug ist rasch gefunden. Grün. Polygrün. Mann, hatte ich vergessen, wieviel Grün so eine Natur auf Lager hat. Und auf, über und unter dem Grünzeug: obskures Kreaturengemenge. Hyperaktive Mückenviecher mit Zahnarztbohrer-Sound, tarnfarbige Springlurchtiere, ein Schnecken-Nudistencamp.
«Ich bin auch Natur», erkläre ich einem Borkenkäfer und breite beherzt mein Handtuch aus.
Nachdem meine Sitzknochen sich Halt in den Waldboden gebohrt haben und der Gedanke, vielleicht auf einer dieser Minikröten gelandet zu sein, weggesperrt ist, drehe ich ein manschettengekühltes Fläschchen 13er Viognier von Brenneis-Koch auf.
Der pflanzt helle Blüten, ach was, eine ganze Bergwiese ins Glas, und legt noch ein paar feste Aprikosen und Zitrusschnitze oben drauf.
Einer Weissbrotscheibe spendiere ich Käse, Schinken, ein Salatblatt und Tomatenscheiben, gebe Mayo dazu und deckele mit einer weiteren Brotscheibe. Ich seufze wohlig, beisse zu. Mit einem saftigen Quatschen befreien sich Mayo-Fontänen aus dem Sandwich, um Halt an Hemdbrust und Hose zu finden. Fluchend lege ich das Brot auf’s Handtuch, reibe mit einem Papiertuch an mir herum. Zellstoff-Fasern, Öl und Eigelb beschließen, eine feste Beziehung einzugehen.
Frustriert greife ich zum Glas, stelle es wieder ab.
Ein Kleintierzoo planscht im Wein, freut sich am Stöffchen. Auch das Sandwich hat schon Bewunderer gefunden; eine Familie Bodenkrabbler ist eingezogen und lädt gerade Kumpels ein. «So klar», denke ich, als ich es unvermittelt plätschern höre und meinen Leichtsinn verfluche, keinen Regenschirm mitgenommen zu haben. Aber als ich über mein Haar streiche, bleiben die Hände trocken. Ich lausche, wende mich zur Quelle des deutlicher werdenden Pladderns. Ein Wanderer, dessen Blasenfüllvermögen offenbar sein Limit erreicht hatte, nickt mir hinter einem unweit stehenden Baum freundlich zu. Ich sammele grusslos mein Zeug zusammen und watschele steifbeinig zum Auto.
Nachbar Erwin, der mich nachhause kommen sieht, winkt mich zu sich.
Er habe da was.
Tapfer das Jucken Dutzender Insektenstiche ignorierend geselle ich mich zu ihm. «Was Ursprüngliches», sagt er, «komplett aus der Ton-Amphore», und reicht mir ein gefülltes Glas.
Meine Nase stutzt, also gehe ich es langsam an und werde Zeuge eines vinologischen Entwicklungsromans. Aus dem Aromenchaos ordnen sich gemächlich: weisser Tee, Kräuter, würzige Honignoten, Feigen, Aprikosen. Im Mund bekommt das Ganze eine feine Tanninunterlage.
«Ist der ‹Zurück-Zur-Natur-Riesling› von Peter Jakob Kühn. 2011er, heisst ‹Amphore›», erklärt Erwin. «Naheliegend.»
Wir nicken synchron, ziehen uns bedächtig ein paar Amphorenkapitel rein.
Und wie wir so in den Lesefluss geraten, ist es plötzlich da: ein berauschendes Naturgefühl.
Und ja, ich spüre sie, meine neue Mitte, den Einklang mit der Natur.
«Rousseau», seufze ich. «Na bitte – geht doch.»
.